Die nächsten zwei Meter.

Rückblende: Vor zwei Jahren befinde ich mich mit einer guten Freundin zum Bergwandern im Allgäu. Wir sind das erste Mal gemeinsam unterwegs.

Schon bei der ersten kleinen Tour bemerke ich, dass ich sie unterschätzt habe – gewaltig unterschätzt. Während sie die Anstiege scheinbar mühelos meistert, ächze ich den Berg hinauf, muss immer wieder stehenbleiben.

„Wie peinlich“, denke ich, Einer 5 Jahre älteren Frau zu unterliegen, kratzt mächtig an meinem Ego.

Von Tag zu Tag werden die Touren länger, meine Kondition besser. An einem Tag, an dem wir viel schneller als geplant dem Ziel näherkommen, mache ich den Vorschlag, die Route zu ändern.

Über einen Grasgrat geht es zu zum neugewählten Gipfel. Wir werden belohnt: 2 Steinböcke ruhen dort und einer lässt uns bis auf einen Meter herankommen.

Auf dem Weg gibt es einige kleine Kletterpassagen, die wir ohne Mühe meistern. Trotzdem muss ich meinen ganzen Mut zusammennehmen. Auf dem Gipfel angekommen „bewege“ ich mich ängstlich über das Plateau während sie einen Eintrag für das Gipfelbuch verfasst.

Denn jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Den gleichen Weg zurückgehen oder dem Pfad ins Nachbartal folgen. Ich beäuge den schmalen, ungesicherten Weg, der seitlich am steil abfallenden Felsen entlangführt.

„Und? Was machen wir?“, fragt sie mit einem herausfordernden Lächeln.

Wir haben die Absprache, dass wir ohne Wenn-und-Aber umdrehen, wenn einer das wünscht.

Während ich in ihr still-vergnügtes Gesicht schaue, entbrennt in mir ein heftiger Kampf. „Wenn Du willst, drehen wir um.“, fügt sie hinzu. Ich weiß genau, dass sie das ehrlich meint und es später weder aus- noch unausgesprochenen Vorhaltungen geben wird. Ich bin völlig frei.

Frei – und doch nicht. Es fühlt sich wie eine Niederlage an: „Aufgeben?“, schreit mein Verstand. „Und das bei einer Frau?“

„Ich brauche Bedenkzeit“, bringe ich gerade noch hervor, während in mir die Schlacht tobt. Fröhlich springt sie davon und unterhält sich mit einem 76jährigen, aber topfitten Herrn. Während beide über vergangene Gipfelrouten und -taten fachsimpeln, sitze ich verloren da und schaue in das Grau der Wolken.

Meine Gedanken rasen: Soll ich umkehren, die Schmach einstecken oder diesen schmalen Pfad gehen, der in schwindelerregender Höhe ins Ungewisse führt?

Viel von ihm kann ich nicht erblicken, entzieht er sich doch nach wenigen Metern dem Blick. Vor meinem inneren Auge entsteht ein Weg, gefährlich steil in die Tiefe abfallend,. Es wogt :Aufgeben oder mich zu Tode fürchten?

Neidisch beäuge ich die beiden, die begeistert in ihr Gespräch vertieft sind. Wut, Eifersucht und eine Art tiefer Einsamkeit gesellen sich zu dem inneren Getümmel.

„Große Klammspitze,“ – so heißt der Gipfel – „wie passend!“, murmel ich vor mich hin. Ich fühle mich mehr als klamm.

Eine gschlagene Stunde sitze ich so da. Schließlich bin ich des Kampfes müde und zu einer Entscheidung gekommen. „Ich will es versuchen. Wenn ich zu viel Angst kriege, drehe ich um“, teile ich ihr mit.

Innerlich habe ich mir vorgenommen, jeweils nur auf die nächsten 2 Meter zu schauen. Wenn ich mir die zutraue, gehe ich sie und schaue dann auf die nächsten.

In ihrem Gesicht glaube ich eine Mischung aus Aufmunterung, Zufriedenheit und einem schelmisch-herausforndernden Lächeln zu lesen. Während mein Verstand dem Ganzen noch „Schon ein bisschen von oben herab, die Gute“ beleidigt hinzufügen will, beschließe ich, ihm jetzt erst einmal das Maul zu stopfen.

„Ich brauch meine Kraft jetzt echt für was Anderes“, schmettere ich ihm entgegen, streife die Kletterhandschuhe über und begebe mich vorsichtig auf den Pfad.

Sie übernimmt die Führung. Während sie den Weg förmlich herunter zu hüpfen scheint, taste ich ab, setze bedacht Hände und Füße. Nach einer halben Stunde ist die Steilpassage überwunden und der Pfad schlängelt sich relativ flach zu einer Hütte, die in der Ferne zu erkennen ist.

Dort machen wir Halt, stärken uns und liegen in der Sonne. Sie scheint wegzudösen und in mir klingen die Strapazen der letzten Stunden nach.

Dann geht es in einem schmalen Wiesenbachbett herunter, in dem das Wasser fröhlich plätschernd zu Tale rauscht. Ich staune, das ist der offizielle Weg. „Wie idyllisch!“, ruft sie mir gerade zu, als ich einen Fuß falsch setze, das Gleichgewicht verliere und rückwärts in den Bach falle.

Lächelnd kommt sie zurück und will mir aufhelfen. „Soweit kommt es noch“, denke ich. Ein heißer Strom von Peinlichkeit und Wut schießt durch mich hindurch. „Echt idyllisch“, sage ich genervt, was sie mit einem Lachen quittiert.

Während wir weiter in das Tal hinunter ziehen, falle ich tatsächlich noch zweimal in den Bach. Ich komme mir vor, als wäre ich in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gefangen.

Völlig erledigt erreiche ich das Tal. Die Strecke schätze ich auf 20 bis 22 Kilometer. Später werde ich herausfinden, dass es lächerliche 14 waren!

Ich habe absolut keine Kraft mehr. Dadurch, dass man im Tal um einen ganzen Gebirgszug herum muss, braucht man eine gute Stunde mit dem Auto dafür.

Der letzte Bus ist schon abgefahren. Am liebsten möchte ich ein Taxi bestellen, egal, wie viel es kostet.

„Macht nix, wie trampen“, ruft sie fröhlich. Ich schlurfe einfach hinterher. Bester Laune und bar jeden Zweifels hält sie den Daumen heraus und ich tue so, als würde ich mitmachen. Meine Akkus sind tiefentladen.

Nach zweimaligem Umstieg bringt uns ein junges Pärchen tatsächlichen den ganzen restlichen Weg zurück, obwohl die Strecke gar nicht auf ihrem Weg liegt. Habt Dank, ihr Lieben!

In der kommenden Zeit lässt mich das Erlebte nicht mehr los. Langsam dämmert mir, dass Angst nicht nur seelische, sondern auch in hohem Maße physische Kraft verbraucht, Das nehme ich als Ausgangspunkt und schlussfolgere:

Du nimmst dir jedesmal seelische und physische Kraft, sobald die Angst auftaucht. Damit verlierst du gleich zweimal Energie, ohne es überhaupt versucht zu haben. Und warum? Weil du nicht scheitern willst.

Mit einem Mal taucht aus den Tiefen so etwas wie ein heiliger Zorn auf: „Ich habe einfach keinen Bock mehr auf Angst!“, höre ich mich mit Nachdruck sagen.

Noch später stellt sich ein Bild ein – eine innere Gewissheit. In Worte gefasst, lautet sie so:

Ein Ruf: „Fordere dich selbst heraus. Probiere alles, wovor du dich ängstigst, Schritt für Schritt aus. Erleb, was passiert. Und wenn die Angst wieder hinterhältig an und in dirr hochkriecht und das Kommando zu übernehmen versucht:

Akzeptieren, Anschauen und dann

Schau auf die nächsten zwei Meter!

Eine Antwort zu „Die nächsten zwei Meter.”.

  1. […] ich im letzten Beitrag schrieb, ist mir über die Zeit immer wichtiger geworden. Hätte ich früher eine Situation wie mit […]

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