No More Bullshit.

In der Hotellobby treffe ich zufällig auf Ralf (Name geändert) und wir kommen ins Gespräch. Er spricht Englisch mit einem amerikanischen Akzent, obwohl er einen deutschen Vor- und Nachnamen hat.

Ralf ist gerade aus den Staaten eingeflogen und will 2 ½ Monate reisen. Gerne würde er noch länger bleiben. Doch er ist Krankenpfleger und müsste bei längerer Abwesenheit an einem intensiven Auffrischungstraining teilnehmen, bevor er wieder in seinem Beruf arbeiten darf.

Wir überlegen, ob wir am Nachmittag zusammen das Museum für ethnische Minderheiten besuchen. Allerdings ist Ralf noch erschöpft von dem langen Flug und weiß noch nicht, ob er fit genug sein wird.

Ich bitte ihn, mir Bescheid zu geben, wenn er sich am Nachmittag nicht fühlen sollte. Ich möchte nicht, dass er nur mitkommt, weil er fürchtet, dass beleidigt sein könnte. Meiner Erfahrung nach hätten wir beide nicht wirklich Freude an der Sache.

Wir nehmen uns ein Taxi und fahren zum Museum. Es gibt einen guten Einblick, wie viele verschiedene Bevölkerungsgruppen und Minderheiten in Vietnam leben, welche Besonderheiten und Bräuche sie auszeichnen.

Auf dem Rückweg überlegen wir, zusammen essen zu gehen. Ich habe Ralf vom Don Duck vorgeschwärmt und so machen wir uns abends zu dem Restaurant auf. Beim Warten auf das Essen kommen wir miteinander ins Gespräch.

Ralf kommt ursprünglich aus Deutschland hat vor knapp 30 Jahren seine große Liebe, eine Amerikanerin, kennengelernt. Ihr zuliebe ist später nach Amerika gezogen und hat dort als Krankenpfleger gearbeitet.

Sie haben sich ein Haus gekauft und ein Kind bekommen. Doch immer wieder tauchten Probleme auf. Ralf suchte sein Heil in immer stärkerem Alkoholkonsum. Später kamen noch andere Drogen, vor allem Kokain dazu. Versuchte seine Frau mit ihm darüber zu sprechen, wies er sie ab. Schließlich ließ sie sich scheiden.

Immer öfter nutzte er Drogen, um seine Probleme zu vergessen. Zweimal wurde er von der Polizei wegen alkoholisiertem Fahren angehalten. Als zum dritten Mal das Blaulicht hinter ihm aufleuchtete, konnte er noch rasch das Kokain aus dem Fenster werfen. Wegen Trunkenheit am Steuer wurde der Führerschein eingezogen und er musste vor Gericht erscheinen.

Der Richter urteilte, dass er zwei Möglichkeiten habe: entweder sofort ein Jahr ins Gefängnis zu gehen oder einem Einzug zu machen. Anschließend müsste er mindestens drei Jahre verbindlich am Programm der Anonymen Alkoholiker (AA) teilzunehmen. Alles unter der Aufsicht eines Bewährungshelfers.

Ralf nutzte seine letzte Chance und blieb danach trocken. Die AA seien eine große Familie erklärt er mir. In jeder größeren Stadt finden fast jeden Tag Meetings statt, an denen man teilnehmen kann.

Zudem gibt es ein Notzeichen: Man malt ein Dreieck auf ein größeres Papier und stellt sich an eine belebte Stelle. Andere AA kennen dieses Zeichen und kommen zur Hilfe, bieten ein Gespräch an. Er selbst hätte das selbst schon oft erfolgreich genutzt bzw. geholfen. Auch während seines Aufenthalts in Hanoi nimmt Ralf oft an den Treffen teil.

Zum Schluss sagt er mir, dass er Gott jeden Morgen inständig bittet: „Schenk mir nur einen Tag“ (ohne Alkohol).

Nun fragt er nach meiner Lebensgeschichte. Ich erzähle ihm, wie es in meinem Leben vor einigen Jahren ganz eng geworden ist, ich keine Freude mehr am Leben verspürte. Schließlich begab ich mich in Therapie und schaute mein bisheriges Leben an. Nach und nach begann ich, die Dinge zu ändern. Seitdem arbeite ich jeden Tag aktiv an meinem neuen Leben.

Mein letzter Tag in Hanoi ist gekommen. Ich möchte noch einmal zum Westlake, einem See, der außerhalb des Zentrums liegt. Dort besuche ich kleinen Tempel, der hauptsächlich von Chinesen besucht wird.

In den Opferschreinen finde ich merkwürdige Opfergaben: Cola, Bier, Zigaretten. Später frage ich eine der Hotelangestellten, was damit passiert. Sie erklärt mir, dass die Gaben von den Mönchen am folgenden Tag herausgenommen und verkauft werden.

Danach will ich zur Pagode. Ich bestelle ein Motorroller-Taxi. Sobald wir auf eine Hauptverkehrsstraße einbiegen, bereue ich meinen Entschluss. Links und recht überholen uns Fahrzeuge so dicht, dass ich meine Beine immer stärker an den Fahrer presse.

Die 10 Minuten Weg kommen mir wie eine Ewigkeit vor. Ich bin erleichtert, als wir das Ziel erreichen und schwöre mir, in Vietnam nie wieder diese Transportart zu benutzen.

Dann geht es noch zum Grab des Staatsgründers: dem Ho-Chi-Minh-Mausoleum. Die Eingänge zu dem großen Platz sind streng bewacht und er ist nur durch eine Sicherheitskontrolle zu betretenn. Ich muss mein Feuerzeug abgeben und werde streng darauf hingewiesen, dass ich meine 360-Grad-Kamera nicht benutzen darf.

Zum Abschluss habe ich mir noch etwas Besonderes ausgedacht. Ich nehme ein Taxi zum Lotte-Tower, zahle den Eintritt und fahre in die Skybar im 65. Stock. In dem stolzen Eintrittspreis ist ein Freigetränk enthalten.

Mit diesem warte ich in 266 Meter Höhe über der Stadt auf den Sonnenuntergang und werde nicht enttäuscht.

Auf dem Rückweg nehme ich noch schnell ein Beweis-Video zum Verkehr in Hanoi auf.

Ich freue mich auf die kommenden Tage. Ich werde mit dem Bus nach Ha Giang fahren. Dort will ich ein Motorrad mieten und den Ha-Giang-Loop, der durch das Karst-Gebirge bis an die Grenze zu China führt, fahren.

Meine Abfahrt nach Ha Giang ist früh und ich treffe Ralf nicht mehr. Also schreibe ich ihm eine WhatsApp-Nachricht, in der ihm für seine Offenheit und sein Verhalten jenseits gesellschaftlicher Konventionen danke. In seiner einmaligen Art antwortet er mir: „Yeah, man. No more bullshit.“

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