Unterricht.

Am Morgen werde ich abgeholt und zu der Schule gebracht, in der ich gleich unterrichten werde.

Die Organisatoren haben sich einen Kurs über die 6. Klasse mit den Themen Astronomie, Geschichte, Geografie und Zeichnen gewünscht. Außerdem werde ich auch auf das Mindset von Sechstklässler:innen eingehen .

Auf der Fahrt wandern meine Gedanken zurück. Vor 8 Jahren wurde ich das erste Mal nach Südkorea eingeladen, um einen Kurs für Lehrer:innen über Waldorfpädagogik zu halten.

Das koreanische Schulsystem

Ich machte mich mit deren Schulsystem nach amerikanischem Vorbild vertraut. Es wird hauptsächlich auswendig gelernt und das Wissen in Multiple-Choice-Tests abgefragt.

Für gute Leistungen werden Trophäen vergeben. Man findet sie an exponierter Stelle im Wohnzimmer der Familien.

So gut wie alle Schüler:innen machen Abitur und wollen möglichst eine der drei Staruniversitäten des Landes besuchen. 80 Prozent aller Schüler:innen erlangen einen Universitätsabschluss. Nur ein ausgezeichneter Abschluss sichert hohes Einkommen und Prestige der Familie.

Suizide

Fast alle Familien erwarten genau das von ihrem Kind. Und dafür wird alles getan. Um den hohen Ansprüchen gerecht zu werden, hat fast jedes Kind Nachhilfe in ein bis zwei Fächern.

Erst vor einigen Jahren wurde die Sperrstunde für die Privat-Nachhilfeschulen von Mitternacht auf 22 Uhr herabgesetzt. Nicht einmal in den Ferien sieht man Kinder spielen. Stattdessen sitzen sie über Büchern gebeugt an ihren Schreibtischen.

Um den zusätzlichen Unterricht zu finanzieren, hilft die gesamte Familien mit. Alle Verwandten steuern Geld bei, nehmen Kredite auf. Damit wächst der Druck auf die Schüler:innen erheblich. Es wird erwartet, dass das Kind später die Kosten der Ausbildung durch eine hohe Vergütung zurückzahlen kann.

Die Folgen: Obwohl Südkorea eine hochentwickelte Industrienation ist, hat das Land mit 30 von 100.000 Einwohner (nach OECD-Statistik 2015/16) die höchste Suizidrate weltweit. Ein erschreckender Rekord, der vor allem Schüler:innen und Menschen bis 40 Jahren betrifft. Zum Vergleich: Deutschland hat eine Selbstmordrate von 15 und Südafrika sogar nur 1!

Schulämter und Lehrer:innen suchen verzweifelt nach Alternativen. Doch bisher scheitern sie an der Fixierung auf ausgezeichnete Abschlüsse von Helikopter-Eltern und der älteren Generation.

Der Kurs

Aus dem ersten Kurs vor 8 Jahren erwuchs eine dauerhafte Zusammenarbeit, aus Teilnehmern wurden Freunde. So bin ich nun zum 11. Mal hier.

Die gemeinsame Arbeit wurde durch die strikten Corona-Maßnahmen Südkoreas für fast vier Jahre unterbrochen. Davor war ich sowohl in den Sommer- als auch den Weihnachtsferien für jeweils eine Woche hier.

Ich freue mich auf das Wiedersehen, die bekannten Gesichter. Der Kurs ist mit knapp 20 Teilnehmenden viel kleiner als normal. Waren es sonst 40 bis 60, hat Corona auch hier seine Spuren hinterlassen.

Und gleichzeitig frage ich mich: Kann ich das noch – Unterrichten?

Die Menschen hier sind einen ganz anderen Unterrichtsstil als Europa gewohnt. Stellt man beispielsweise eine Frage, schlagen alle ihre Notizbücher auf und zücken die Stifte.

Eine lebhafte Diskussion, ein gemeinsames Ringen um die Antwort kennt man nicht. Eine Frage wird – selbst in akademischen Kreisen – als rhetorisches Mittel verstanden. Die Antwort gibt der Fragende selbst, die Teilnehmenden schreiben auf.

Dazu kommt, dass die koreanische Gesellschaft hierarchisch gegliedert ist. Ältere stehen über Jüngeren, Vorgesetzten deutlich über den Mitarbeitenden.

Sogar die Sprache kennt 7 verschiedene Anredeformen, wobei der Abstand des Rangs/ Alters des Angesprochenen im Verhältnis zum Sprechenden ausschlaggebend ist.

So steht auch der Kursleiter auf einer höheren Stufe als die Teilnehmenden. Dies zu durchbrechen und alle zu beteiligen, ist seit Jahren mein Anliegen. Nur das ermöglicht einen aktiven Austausch und ein wirkliches Erleben.

Zum Glück ist ein Großteil seit vielen Jahren dabei. Jeden Morgen beginnen wir mit Theaterübungen, gefolgt von Schwarz-Weiß-Zeichnen. Dadurch geraten wir gar nicht erst in eine Konsumhaltung. Die Übungen sind so ausgewählt, dass sie das innere Erleben des pubertierenden 6.-Klässlers erleichtern.

Zudem haben die Teilnehmenden die Aufgabe, eine Geografiestunde zu erarbeiten, jede Gruppe ein Land Asiens. Ein lebendiger Vortrag, eine selbstgezeichnete Karte sowie ein Text sind vorzubereiten.

Natürlich befassen wir uns auch mit Astronomie und Geschichte. Meine Übersetzerin Eenya, mit der ich schon im vorangegangenen Kurs zusammengearbeitet habe, arbeitet Hand in Hand mit mir.

Ich sage jeweils einen Satz, den sie dann in Koreanisch wiedergibt. Das ist aber auch der Punkt, den ich bei der Vorbereitung auf das Seminar aus den Augen verloren hatte: Die Hälfte der Zeit wird für die Übersetzung gebraucht.

Dazu kommt, dass mich die Teilnehmenden zu Beginn des Kurses damit konfrontieren, dass sich in den letzten fünf Jahren 100 koreanische Lehrer das Leben genommen haben.

Ein Fall hat die Nation besonders erschüttert: Eine 24jährige Grundschullehrerin aus Seoul hat während ihres Unterrichts den Klassenraum verlassen und sich im benachbarten Materialraum erhängt.

Die Teilnehmenden berichten von Frustrationen, Burnout und Depressionen, die sie plagen. Also greife ich zusätzlich das Anliegen auf und versuche, mit ihnen an diesem Punkt zu arbeiten.

So haben wir unsere liebe Not, den reichhaltigen Stoff in der Zeit unterzubringen. Trotzdem kommen wir fast durch, nur die Astronomie bleibt etwas auf der Strecke.

Die Zeit scheint zu fliegen. Am letzten Tag halten alle 8 Gruppen eine hervorragende Geografiestunde. Obwohl ich, um den Fluss des Vortrags nicht zu unterbrechen, auf eine Übersetzung verzichte, ist doch die Lebendigkeit zu erleben.

Eine spätere Nachfrage bei der Übersetzerin, die selbst Waldorflehrerin in Korea ist, bestätigt meine Wahrnehmungen.

Kommst Du wieder?

Eigentlich ist mit diesem Kurs ein Zyklus über die Klassenstufen 1 bis 6 abgeschlossen und ich bin mit dem Vorsatz hingefahren, dass dies das Ende meiner Arbeit in Korea bedeutet.

Als wir beim Abschlussessen am Freitagabend zusammensitzen, kommt die Bitte des Organisationsteams: „Kannst Du wiederkommen?“ Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher.

Die gemeinsame Arbeit über die Jahre, die persönlichen Begegnungen, die Begeisterung und Lebendigkeit der Teilnehmenden lassen mich an meinem Entschluss zweifeln.

Und um ehrlich zu sein, weiß ich es längst: Wenn es gewünscht ist, werde ich wiederkommen. So lautet meine Antwort an das Organisationsteam: „Ok. Stellt Eure Wünsche zusammen. Dann konzipieren wir den nächsten Kurs.“

Eine Antwort zu „Unterricht.”.

  1. Der Beitrag bietet einen sehr interessanten Einblick in den südkoreanischen Schulalltag und die Lage der Lehrkräfte. Wir sind beeindruckt von dem Miteinander zwischen dir und den Kollegen *innen. Weiterhin eine schöne Zeit.

    Sofie und Kurt

    Like

Hinterlasse einen Kommentar